Ich wusste nicht recht viel mehr, als dass ich nur eine Reisetasche mitnehmen und am Freitag morgens um 5 vor 6 beim Haus von Hans Euringer in Demling sein sollte. Es sollte mit noch 5 weiteren Personen mit einem VW-Bus von der Kartoffel-Firma Dolli in Oberdolling nach Rumänien gehen. Es war der rußige Freitag, 28. Februar 2003. Es lag noch ein bisschen Schnee in unserer Flur, aber die Kälte der letzten Wochen ließ jetzt nach. In Demling stiegen noch Anton Welser und drei Franken aus Ettenstatt bei Weißenburg, Erna, Gerhard und Helmut zu. In Menning holten wir noch eine Rosa Kipfelsberger ab, eine rüstige Seniorin, die sich eine Strickmaschine angeschafft hat, um für Kinder in Rumänien Pullover zu stricken. Durch ihre Kontakte zu "Radio IN" wurde uns vom Sender gute Fahrt gewünscht. Die Fahrt über Passau, Wien und Budapest in Richtung Carei in Rumänien ging los.
Für Rosa und mich war das die erste Reise in dieses Land. Trotz der vielen Erzählungen und lustigen Stimmung im Bus, blieb mir dennoch Zeit, mich zu fragen wie ich eigentlich zu dieser Reise kam. Es gab zwar eine längere, unbedeutende Vorgeschichte, aber letztlicher Anlass war wohl die Idee meiner Frau, dass alle Kinder zum Krippenspiel in der Großmehringer Pfarrkirche am Heiligen Abend ein Geschenk mitbringen sollten - und zwar ein Spielzeug, das sie an Kinder in Rumänien verschenken sollten. Ich sprach darauf Hans Euringer, der in der Rumänienhilfe engagiert ist, an und er war begeistert. In diesem Zusammenhang lud er mich ein, einmal mitzufahren. Außer dass ich mich bei Spritkosten beteiligen müsste und auch für die anderen Unkosten wie Verpflegung selber aufkommen müsste, wusste ich nicht recht viel mehr. Ich überlegte es mir einige Tage und sagte dann zu.
Von der ungarisch-rumänischen Grenze war es nur noch eine gute Stunde nach Carei, einer kleinen Stadt mit etwa 20.000 Einwohnern. In einer mit 7 Matratzen, Tisch, 7 Stühlen, einem Büfett mit Geschirr und ansonsten leeren Wohnung übernachteten wir. Der von zuhause mitgebrachte Proviant diente zum Frühstück am Samstagmorgen. Als erstes fuhren wir ins Lager von "Kinderland". "Kinderland" ist der rumänische Teil dessen was in Bayern die "Rumänienhilfe" ist. Vorsitzender von Kinderland ist Anton Welser aus Demling, Vorsitzende der Rumänienhilfe ist Erna Schimmelmann aus Ettenstatt. In diesem Lager kommen alle Sachspenden aus Bayern an. Etwa jeden Monat fährt ein LKW (Volumen etwa 90 m3) von den Sammelstellen bei uns nach Carei in dieses Lager. Sieben Menschen, die aufgrund der Initiative der Rumänienhilfe eine Arbeit bekommen haben, sortieren hier die Güter (Möbel, Kleidung, Spielsachen, Kinderwägen ...) und verteilen diese kostenlos an sehr Bedürftige oder verkaufen sie günstig im Lager oder in den beiden Secondhand-Shops in der Stadt. Die Erlöse tragen zur Kostendeckung der Mieten, Gehälter und des Transports von Bayern nach Rumänien bei. Die Sammlung der Waren bei uns erfolgt auf ehrenamtlicher Basis, auch werden die Unkosten für Fahrten, Lagerung, Telefon ... von den Ehrenamtlichen getragen.
Als nächstes stand der Besuch des Krankenhauses auf dem Plan. Erst vor kurzem zogen die ersten Stationen in den fertig gestellten Gebäudeteil ein. Das Krankenhaus gehört der Kommune; es ist aufs Notdürftigste eingerichtet, weil das Geld an allen Ecken und Enden fehlt. Die Rumänienhilfe konnte in Deutschland einige ausrangierte medizinische Geräte, Bettüberzüge und auch Kindernahrung für die Neugeborenenstation und die Kinderstation besorgen. Auf Station sind auch behinderte Kinder, die die Mütter nach der Geburt nicht behalten wollten. Manche der Kinder sind schon zwei oder drei Jahre alt und liegen praktisch unbetreut in ihren Betten. Der Kontakt mit dem Kinderarzt ist sehr gut. Er nimmt sich der Kinder an. Damit die Kinder gutes Essen bekämen, müsse er selber zum Markt gehen um Gelbe Rüben und Kartoffeln zu kaufen
Danach setzten sich die deutschen und rumänischen Verantwortlichen von Kinderland zusammen und besprachen neue Projekte und die Vorkommnisse der letzten beiden Monate - so oft fahren die Deutschen nach Carei. Das Gespräch dauerte bis in den Abend. Besonders anstrengend werden die Gespräche dadurch, weil eine Dolmetscherin übersetzen muss. Zu meiner Überraschung wurde in erster Linie ungarisch und nicht rumänisch gesprochen. Ein Großteil der Menschen in dieser Grenzregion sind Ungarn. Von den vielen Deutschen die hier in Transsilvanien und Siebenbürgen waren, sind die meisten wieder nach Deutschland "zurück"-gewandert.
Da Hans Euringer nicht zu den Verantwortlichen von Kinderland in Rumänien gehört, klinkten wir uns zusammen mit Rosa Kipfelsberger für ein paar Stunden aus. Wir besuchten eine "Zigeuner"-Siedlung am Stadtrand von Carei. "Zigeuner" ist hier anders als in Deutschland kein Schimpfwort. Da ich schon viel in arme Länder anderer Kontinente gereist bin und dort auch schon länger leben durfte, war ich was Armut und Elend betrifft schon ziemlich abgehärtet. Was ich aber da sah, schockierte mich doch sehr. Dass es Kinder gibt, die so nahe bei uns wohnen und in einem solchen Dreck leben, passte nicht in das Bild, das ich bisher von Europa hatte. Carei ist nur 1000 km von uns entfernt und es gab im Unterschied zum Beispiel vom Kosovo keinen Krieg. Das ganze sah aus wie ein Acker, teils mit Schnee bedeckt, die Erde war vom Nachtfrost noch leicht gefroren. Inmitten des Ackers sah man einige Mauern mit teilweiser Stroh- oder Plastikfolienbedachung. Aus zwei oder drei Behausungen rauchte es, es wurde also geheizt - unverkennbar am Geruch - mit Plastikabfällen. Kurz nachdem wir mit dem VW-Bus anhielten, kamen die ersten mit Schmutz und Lumpen überzogenen Menschen aus den Behausungen gekrochen. Hans Euringer kannten sie bereits von seinem ersten Besuch. Wir hatten in einem Supermarkt Lebensmittel gekauft, die wir an die Menschen verteilten. Rosa Kipfelsberger verteilte ihre gestrickten Pullover. "Ob das den Menschen weiterhilft?", dachte ich mir. Da ich mich schon mehrmals mit Entwicklungshilfe beschäftigt hatte, wusste ich, dass die oberste Maxime "Hilfe zur Selbsthilfe" ist, das heißt, den Menschen muss geholfen werden, dass sie in Zukunft auf ihren eigenen Beinen stehen können. Dann dachte ich aber an die derzeitige Werbekampagne von Misereor die "Not lindern" heißt. Ja, das hier war Not lindern - für ein paar Tage etwas Gescheites zu essen und einen warmen Pullover. Vielleicht rafft das einige dieser Menschen wieder ein wenig auf und gibt ihnen ein bisschen Hoffnung. Ich habe noch vergessen zu erwähnen, dass wir auch jemanden zum Übersetzen mit dabei hatten. Es war der Stiefsohn einer der Lagerangestellten, der als 15-jähriger vor der "Wende" nach Österreich geflohen ist. Er war ein paar Wochen zu Besuch hier und vorher 5 Jahre nicht mehr in seiner Heimat gewesen. Er war frustriert von der Armut, die in dem Land immer sichtbarer wird, aber von dem Zustand dieser Kinder war er sichtlich schockiert.
Am Sonntag standen die Familienbesuche, die am Vortag festgelegt wurden, auf dem Programm. Ich weiß nicht mehr wie viele es waren und kann hier nur teilweise darüber berichten. Zuerst ging es hinaus aufs Land, nahe an die ungarische Grenze in ein Weingebiet. Eigentlich sehr romantisch: Ein Mann und eine Frau leben dort mit einem Kind in einem alten, mit Stroh bedeckten Haus. Ohne Strom und ohne fließendes Wasser. Der Mann passt auf die umliegenden Häuschen auf, die nur im Sommer und Herbst zur Weinarbeit bewohnt werden. Dafür bekommt er ein wenig Geld. Der Rest wird "direkt" erzeugt: Garten, Schweine, Hühner und Gänse. Die Zäune und Pferche der Tiere sind alle aus Holzstecken gemacht und zusammengebunden - ohne teure Nägel oder Schrauben. "Schau, die heizen mit grünem Holz" sagte ich. "Das wurde erst vor ein paar Tagen abgeschnitten". "Nein, das kann nicht sein", meinte Gerhard, "er hat hinter dem Haus jede Menge." Doch Gerhard täuschte sich, der Holzstock war durch den außerordentlich kalten Winter bereits verschlungen worden. Nachher wurde mir erzählt, dass das Haus vor ein paar Monaten noch fürchterlich aussah. Wenn Kinderland nicht geholfen hätte, das Dach zu decken und den Kamin wieder aufzumauern, würde von dem Haus wohl nichts mehr stehen. Der Mann war verwitwet und Alkoholiker, er war damit einverstanden, dass seine beiden Kinder ins Kinderheim in Carei gehen. Heute ist er wieder verheiratet, trinkt nicht mehr und besucht seine Kinder aus erster Ehe in Carei regelmäßig. Als nächstes ging es in einen Ort, wo ein verwaister Junge die lang gewünschte Angel bekam. Ein Trost, eine kleine Freude für einen Jungen mit trauriger Vergangenheit. Mit den nächsten Besuchen wurde mir klar, dass auf ganz verschiedenen Ebenen und ganz verschiedenen Leuten geholfen wird. Unser letzter Besuch auf dem Land war bei einem 16-jährigen Mädchen. Ihre Eltern sind gestorben, ihre Tante ist krank und wird von ihr gepflegt. Ihr Haus ist sehr gepflegt, sie ist gut und modern gekleidet. Alles scheint in Ordnung zu sein. Sie hat eigentlich nur ein Problem, das man lösen kann: Sie möchte das Gymnasium fertigmachen und braucht Nachhilfe in Physik. Wäre es richtig, einem solchen Mädchen die Chance auf eine gute Ausbildung zu verweigern? Die Dolmetscherin konnte einen Nachhilfelehrer organisieren und Kinderland wird bezahlen. Wir besuchten einige Familien mit vielen Kindern. Bei zwei Familien musste die Mutter nicht nur die Kinder durchfüttern, sondern auch den Ehemann. Das erinnerte mich stark an Ecuador, wo es auch etliche "Machistas" gab, die außer Kinder machen und Trinken nichts mehr konnten. Man muss aber auch die andere Seite sehen, dass diese Menschen zwar einmal versagt haben oder einer Aufgabe nicht gewachsen waren, aber von niemanden aufgefangen wurden um wieder hoch zu kommen. Etwas Ähnliches passiert heute mit vielen Jugendlichen vor allem in unseren Städten. Bei solchen Familien ist es schwierig zu helfen, wenn man sie in falscher Weise unterstützt, wird der Mann gar nichts mehr arbeiten. Hier merkte man im Umgang mit diesen Menschen die langjährige Erfahrung von Erna als Sozialpädagogin. Dann besuchten wir noch eine alte Frau, um die sich kaum jemand kümmert. Sie ist zuckerkrank, bekommt von einer Einrichtung die Medikamente und Essen. In ihrem Zimmer, ein gartenhäuschen-ähnlicher Anbau, ist es eiskalt. Der einzige warme Platz ist das Bett. Auf unsere Frage, ob sie denn nichts zu heizen hat, sagte sie, dass sie, wenn es ihr Gesundheitszustand erlaube, zu den Mülltonnen gehe und dort Plastik hole um es zu verbrennen. Die rumänischen Kinderlandmitarbeiter werden sie in Zukunft in der kalten Zeit mit Holz versorgen.
Am Abend merkte man unseren Leuten an, wie anstrengend der Tag war. Es war schwer einfach abzuschalten. Mit schlechtem Gewissen ging ich mit zum besten Restaurant am Ort (eigentlich nichts Besonderes für eine Stadt mit 20000 Einwohnern). Eine Welt des Luxus, den diese Menschen nie kennen lernen werden. Ich musste am Abend noch an die Frage an Jesus aus dem Evangelium denken: "Herr, wann sahen wir dich hungrig oder durstig oder als Fremdling oder nackt oder krank oder im Gefängnis und haben dir nicht gedient?" Ist denn hier, wo doch alles so "gottverlassen" ist, einem dieser Jesus wirklich so nah?
Am Montag nahmen Hans, Rosa und ich es ein wenig ruhiger. Wir schauten uns ein paar Kirchen in Carei an. Von der Größe der Kirchen her scheint es gleich viele Katholiken und Orthodoxe zu geben. Anton, Helmut, Erna und Gerhard gingen mit der Dolmetscherin zum Bürgermeister, um das Heizungsprojekt des alten Krankenhauses durchzusprechen. Es soll zu einer Kinderstation umgebaut werden. Bei dem Termin sollte geklärt werden, dass das Gebäude mindestens 10 Jahre Kinderstation bleibe, damit sich die Investition einer neuen Heizung auch lohne. Der Bürgermeister versprach, zusammen mit dem Kreis einen Vertrag auszuarbeiten. Den restlichen Tag wurden die Besuche des Vortages reflektiert und konkrete Aktionen festgelegt. Einer der Mitarbeiter von Kinderland lud uns am Abend auf ein Glas Wein zu sich nach Hause ein. Auch bei ihm war jeder Platz im Garten ausgenutzt: Schweine, Hühner und Platz für Gemüse im Sommer. Bei ihm sah ich die wohl zahmste Muttersau, die ich je gesehen hatte.
Am Faschingsdienstag ging es zurück über Ungarn und Österreich in unsere Heimat, die sich vor Reichtum nur so quält. Wenn es auch nicht so scheint, wenn man unsere innerpolitischen Nachrichten verfolgt und die Leute jammern hört.
Am Donnerstag darauf strahlte "Radio IN" ein Interview mit Rosa aus.